Saturday, July 25, 2020

Keine Konzepte, kein Essen: Bedürftige Kita-Kinder und Schüler gehen trotz Anspruch leer aus - Zollern-Alb-Kurier

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Nachdem Schulen und Kindertagesstätten geschlossen wurden, mussten viele Eltern nicht nur die Kinderbetreuung wieder in die eigene Hand nehmen. Es bedeutete auch, dass es wegen geschlossener Mensen keine Essensverpflegung in Kita und Schule gab und teilweise noch immer nicht gibt.

Das trifft insbesondere bedürftige Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen hart. Sie stammen unter anderem aus Hartz-IV- oder Aufstockerfamilien. Doch auch wer Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs- oder Bundeskindergeldgesetzes hat oder Wohngeld erhält, gehört zu dieser Gruppe.

Mittagessen steht Bedürftigen zu

Ihnen steht als Teil des Bildungs- und Teilhabepakets unter anderem ein kostenloses warmes Mittagessen zu. Die Kosten dafür übernimmt teilweise der Bund, teilweise der Landkreis als Sozialhilfeträger.

Das Ende Mai von der Bundesregierung Ende Mai gesetzlich beschlossene Sozialschutzpaket 2 bietet eine Sonderregelung für die Zeit bis zum Ende des Schuljahres: Kommunen können das Mittagessen den Kindern nun auch flexibel auf anderen Wegen bereitstellen, wie durch Lieferung nach Hause oder zur Abholung, heißt es darin. Damit die Kinder in der aktuellen Situation nicht darauf verzichten müssen.

Von Problemen wegen des fehlenden Mittagessens hörte man beim Landkreis bislang nicht: „Rückmeldungen oder Beschwerden von Seiten der Schulen und auch von den Leistungsberechtigten sind hier keine bekannt.“

Landratsamt weiß nichts von Lieferungen

Doch während der Zeit der stärksten Einschränkungen, aber auch noch heute gehen die Kinder und Jugendlichen größtenteils leer aus. Ob und inwieweit Schulträger oder Mensen beispielsweise wöchentlich Kochboxen oder das Mittagessen nach Hause geliefert haben, sei nicht bekannt, heißt es auf Anfrage unserer Redaktion.

In einer Antwort der Verantwortlichen im Landratsamt auf eine Anfrage der Kreistagsfraktion der SPD zu dem Thema heißt es jedoch, es sei nicht bekannt, dass im Zollernalbkreis Essen für bedürftige Kinder während der Corona-Hochphase nach Hause geliefert wurde.

Über die Kritik der Deutschen Kinderhilfe am Nichthandeln der Träger im Südwesten berichtete die SÜDWEST PRESSE bereits vor einigen Wochen ausführlich.

Landkreis hat kein Konzept als Schulträger

Auch als Schulträger hat der Landkreis offenbar kein Konzept oder sieht gar keinen Anlass zu handeln. „Die Schülerinnen und Schüler an unseren beruflichen Schulen sind Jugendliche und junge Erwachsene. Hier sehen wir keine Veranlassung, uns im Einzelfall um die Ernährung zu kümmern und eine Essenslogistik bis nach Hause aufzubauen“, heißt es in der Antwort auf die SPD-Anfrage, die unserer Redaktion vorliegt.

Kinder sollen Essen mitbringen

Ähnliches hört man aus Albstadt. Dort heißt es auf Anfrage unserer Redaktion „Es ist grundlegende Aufgabe der elterlichen Sorge für die Ernährung der Kinder zu sorgen.“

Per Brief wurden die Eltern informiert, dass die Kinder für die Mittagszeit ein entsprechendes Vesper von Zuhause mitbringen müssen, schreibt die Verwaltung.

Schüler, die am Nachmittag betreut werden, können das von zu Hause mitgebrachte Essen im Mensaaufenthaltsraum in fest eingeteilten Gruppen einnehmen. Teilweise können sie es dort auch erwärmen.

Essenslieferdienst müsste aufgebaut werden

Bei den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren hat der Landkreis als Träger nach eigenen Angaben praktische Probleme: Das Essen werde normalerweise an zentraler Stelle gekocht und in Großgebinden geliefert.

Da die Schulen sehr große Einzugsgebiete hätten, müssten die Mahlzeiten im ganzen Zollernalbkreis ausgefahren werden, heißt es in der E-Mail an die SPD. Dazu bräuchte man einen Essenslieferdienst.

Es fehlt an Konzepten

Das Problem also: Schulträger müssten ein Konzept ausarbeiten, Caterer finden und die Lieferung oder auch Abholung selbst organisieren. Das Geld ist an die Leistung geknüpft, darf also nicht einfach vom Landkreis überwiesen werden. Doch diese Konzepte gibt es offenbar nicht.

Landkreis nimmt mit Schulleitungen Kontakt auf

Auch wenn man davon ausgeht und hofft, dass die Mensen nach den Sommerferien wieder öffnen können, heißt es aus dem Landratsamt in der Antwort auf die SPD-Anfrage zum Thema Lieferungen: „Bisher sind keine Anträge bei uns eingegangen. Wir werden aber nach den Sommerferien mit den Schulleitungen der drei Sonderschulen Kontakt aufnehmen und die dort namentlich bekannten Einzelfälle durchgehen.“

Balingen hat kein Konzept

In den großen Kreisstädten gibt es offenbar ebenfalls keine Konzepte. Betroffen sind in Balingen 70 bis 80 Schüler und 5 bis 10 Kita-Kinder, teilt die Verwaltung auf Anfrage mit. Im Schnitt hätten diese rund ein Essen pro Woche in Anspruch genommen. In Albstadt sind es rund 75 Kinder.

Landkreisweit waren es im Januar 409, im Februar 312 sogenannte Leistungsberechtigte, teilt das Landratsamt auf Anfrage mit.

Balingen prüft Lieferung

Die Balinger Stadtverwaltung wird nun aber offenbar tätig und prüft derzeit eigenen Angaben zufolge für den Fall von geschlossenen Mensen, „ob wir über den Caterer der Kindertagesstätten ein Mittagessen beziehen und auch an die bedürftigen Kinder und Jugendlichen liefern lassen können und ob dies dann vom Landkreis als Kostenträger des Bildungs- und Teilhabepaketes erstattet wird“.

Denn seit die Kindertagesstätten wiedereröffnet wurden, wird das von einem Caterer in der eigenen Küche gekochte Mittagessen in Balingen auch wieder ausgegeben.

Vorschriften als Problem

In Albstadt sieht man die derzeit bestehenden Hygienevorschriften als nicht umsetzbar bei einer Lieferung/Abholung der Mittagessen, wie es auf Anfrage heißt.

Nach den Sommerferien sollen die Mensen in Albstadt und Balingen wieder öffnen, so dass diese Kinder und Jugendlichen ihre Mittagsverpflegung wieder in den Schulmensen erhalten können. Auch die Bedürftigen.

Kommentar von Pascal Tonnemacher: Vergessene am Rand

Und, was haben Sie gestern zu Mittag gegessen? Einige von Ihnen werden es schon gar nicht mehr wissen. Mit einem Selbstverständnis essen die meisten sorglos täglich eine warme Mahlzeit oder gar zwei. Über massenhaften Fleischkonsum müssen wir gar nicht reden.

Doch nicht für jeden in unserer Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass es jeden Mittag ein gesundes, warmes Mittagessen gibt. Immer mehr Kinder leben in ärmlichen Verhältnissen oder sind von Armut bedroht. Das belegen Studien.

Ihre Eltern haben oftmals existenzielle Sorgen. Sei es die Stromrechnung, Kultur, Sportvereine oder die Miete. Um das alles Monat für Monat finanziell stemmen zu können, drehen viele jeden Cent mehrfach um. In der Krise wurden die Probleme nicht weniger. Mittagessen einfach selbst mitzubringen, ist hier keine Lösung. Und dass diese Familien offenbar nicht bei den verantwortlichen Stellen darum betteln, dass sie bekommen, was ihnen zusteht, ist mehr als verständlich und kein Zeichen dafür, das kein Problem besteht.

Ja, die Verantwortlichen haben sicher noch andere und noch wichtigere Probleme, die sie angehen müssen. Und die Coronakrise bedroht ohnehin viele Existenzen. Das ist aber nicht der Punkt. Sie alle haben eine Lobby. Um bedürftige Kinder und Jugendliche scheint sich, nicht nur im Zollernalbkreis, im Ernstfall dann trotz Sonderregelung keiner mehr zu scheren. Aussitzen und warten bis die Mensen wieder öffnen, ist kein Konzept, sondern ein Zeichen von Überforderung.

Das eigentliche Armutszeugnis gehört den Verantwortlichen ausgestellt, die ausgerechnet diese Menschen vergessen haben und selbst jetzt nicht nachhaken, unbürokratisch zupacken oder zumindest auf das ehrenamtliche Engagement bauen, das in der Coronakrise abermals hervorstach.




July 25, 2020 at 11:42AM
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